Wie entwickeln sich die Zinsen im Euroraum? Was kann die EZB tatsächlich tun?
Die EZB befindet sich in einem engen Spannungsfeld. In der Vergangenheit hat sie die Eurozone durch niedrige Zinsen für die überschuldeten Staaten des Südens (salopp „Rotweintruppe“) stabilisiert. Nach der Finanzmarktkrise stand die Eurozone schon einmal „auf der Kippe“ und es konnte nicht eingeschätzt werden, wie ein Zahlungsausfall und ein etwaiges Ausscheiden Griechenlands und/oder Spaniens auf den Euro und den Fortbestand der Eurozone wirken könnte.
Schließlich hatte die EZB durch niedrige Zinsen und Anleiheankäufen die Südstaaten unterstützt und indirekt oder auch direkt finanziert. Zuletzt wurden auch Unternehmensanleihen gekauft und Helikoptergeld und Aktienkäufe zur Mobilisierung der Wirtschaf bzw. des BIPs diskutiert. Dies war schon in Zeiten niedriger Inflation kritikwürdig, wurde aber in weiten Teilen der Eurozone als Preis der Stabilisierung toleriert. Doch die verbotene Staatsfinanzierung wurde auch von den Nordstaaten kritisiert; das BVerfG hatte hierzu auch ein ablehnendes Urteil gefällt. (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-032.html).
Im Umfeld steigender Inflation steht die EZB nun unter dem Druck, die Zinsen stark zu erhöhen. Diese Erhöhungen führen direkt zu Refinanzierungsproblemen für die Südstaaten, die die Vergangenheit nicht zu Reformen zur Herstellung einer soliden Finanzierungsstruktur genutzt haben. So haben die populistischen Kräfte in Italien die durchaus erfolgreiche Technokratenregierung von Mario Draghi sogleich gestürzt und fordern wieder mehr Staatsausgaben. Die Südländer scheinen unwillig bzw. unfähig zu Reformen im Sinne einer Finanzstabilität zu sein. Es muss jedoch eingeräumt werden, dass dies mindestens seit dem zweiten Weltkrieg der Fall ist. Die Eurozone wird wohl nur mit den Südländern Bestand haben, wenn die Eurozone, d.h. die Nordländer mit soliderer Finanzsituation und geringerer Verschuldung, die Südländer dauerhaft subventionieren. Daher können Zinserhöhungen nur mit noch mehr Anleihekäufen und anderen Stützungsmaßnahmen der Südländer erfolgen – andernfalls würde die gesamte Eurozone auseinanderbrechen und dies ist von den Nordländern (noch) nicht gewollte. Folgerichtig hat die EZB zwar die weitere Ausweitung der Anleihekäufe öffentlichkeitswirksam gestoppt, die Wiederanlage wird aber asynchron vornehmlich in Staatsanleihen der Südländer erfolgen. Zudem hat die EZB ein weiteres Programm (TPI) errichtet, das vorgeblich der Begrenzung der Kreditspreads in der Eurozone dienen soll. Das bedeutet aber nur, dass die Zinsen, die die Südländer zahlen müssen, nicht zu weit von den Zinssätzen der soliden Nordländer entfernt liegen sollen. Folglich werden wieder vor allem Anleihen der Südländer gekauft werden. Man erhofft sich vom TPI-Programm aufgrund der abweichenden Begründung eine solidere rechtliche Grundlage bzw. eine geringere Angriffsfläche. Im Ergebnis käme dies wieder einer (verbotenen) Staatsfinanzierung der Südländer durch die EZB gleich.
Alle Länder der Eurozone haben kein Interesse an einem Zerfall der Eurozone. Daher wird der EZB ohne ernsthaftes Eingreifen zugesehen. Der Druck wird aber durch die Bevölkerungen und Gerichte der Nationalstaaten wachsen.
Anzumerken ist, dass die Verschärfung der Refinanzierungsprobleme der Südstaaten durch die Zinserhöhungen auch ein „unnötiges“ Problem ist. Die aktuelle Inflation ist nicht verursacht durch eine stark steigende Geldmenge, die durch Zinssteigerungen einzudämmen wäre. Die Geldmenge M3 steigt zwar, aber bei Weitem nicht so stark wie im letzten und vorletzten Jahr. Die aktuelle Inflation rührt aus Lieferkettenproblemen aus der Coronapandemie, den immer neuen Lockdowns in China sowie den steigenden Energiekosten in der Folge des Ukrainekonflikts her. Höhere Zinsen helfen hier nicht, belasten aber die ohnehin in einem „schwierigen Fahrwasser segelnden“ Unternehmen zusätzlich. Die Zinserhöhungen sind ein Zugeständnis an den Mainstream ohne konkrete Wirkung. Die EZB wird diese daher auch umgehend eindämmen, wenn die Inflation wieder sinkt – auch um die Refinanzierung der Südstaaten weiter zu sichern.
Auf lange Sicht werden wir niedrige, wenn auch nicht wieder negative, Zinsen behalten, da
- die Südstaaten nicht zu Reformen / Finanzstabilität fähig bzw. willig sind,
- die Eurozone einen Ausfall der Südstaaten nicht überstehen würde,
- die Nordländer „zähneknirschend“ die Subvention der Südländer mittragen werden (nicht ohne regelmäßig pro-forma Kritik zu üben),
- die Eurozone schon aus demografischen Gründen keine größeren Wachstumsraten mehr erzielen kann, die auch höhere Zinsen rechtfertigen würden,
- die Wirtschaft in den Nationalstaaten mit steigenden Zinsen zusätzlich belastet wird,
- sich die aktuelle Inflation nach Erledigung der Grundlagen relativieren wird (Herstellung einer alternativen Energiesicherheit, Wiederherstellung/Sicherung der Lieferketten, globale Neuordnung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Block Russland/China und dem Westen).
Die aktuelle Reduzierung der Spreads zwischen dem 3-Monats-Euribor und dem 10-Jahres-Swap zeigt bereits, dass der Markt auch langfristig nicht von weiter steigenden Zinsen ausgeht. So ist der 10-Jahres-Swap im Sommer von 2,5 % auf nun 1,7 % gefallen, auch wenn der 3-Monats-Euribor bereits bis auf 0,27 % gestiegen ist. Hier zeichnet sich wieder eine Abflachung der Kurve auf nun höherem Grundniveau ab.
Die EZB sollte (und wird) die Zinsen nicht nachhaltig erhöhen, da sie damit die Inflation nicht wirksam bekämpft aber die Südstaaten und auch die Wirtschaft stark belastet.
Weitere geopolitische Schocks können natürlich die Entwicklung verzögern oder leicht verändern, aber alle Belastungen werden tendenziell eher zu niedrigen Zinsen der EZB als „Stützungsmaßnahme“ führen.